Eine 25-jährige Iranerin, die in einer konservativen Familie in der iranischen Stadt Isfahan aufgewachsen ist, berichtet in Briefform von ihrer islamistischen Indoktrination. Und davon, wie sie begann, die vorherrschenden Dogmen zu bekämpfen.
Dieser Brief geht an meine nicht-iranischen Mitmenschen. Darin erzähle ich von der Welt, in der ich aufgewachsen bin, eine Welt, die Ihnen surreal erscheinen mag. Alles hat sich so zugetragen, wie ich es beschreibe und ich hoffe, dass Sie erahnen können, welche Spuren diese Erfahrungen in mir hinterlassen haben.
Weil meine Mutter an Depressionen leidet, konnte sie mir als Kind keine schönen Mädchenkleider kaufen, also habe ich immer die Kleidung getragen, die ich von meinem Vater bekommen habe: T-Shirts und Jeans mit Bildern von Figuren, die damals von Buben geliebt wurden.
Ich glaube, ich war vier oder fünf, als meine Tante und ich anlässlich einer Kindergartenfeier zum ersten Mal ein Kleid für mich einkaufen gingen. Es war ein wunderschönes gelbes Etuikleid mit Blumendrucken, ein bisschen kurz, und ich sah darin aus wie eine Puppe. Ich war begeistert.
Als wir das Kleid zu Hause meinem Vater zeigten, warf er mir den ersten bösen Blick meines Lebens zu. Ich verstand damals nicht, warum Kleider, die einen schön machten, nicht erlaubt waren!
Getrennt in der Schule. Noch vor dem ersten Schultag war mir klar, dass ich in der Schule keine Buben mehr sehen würde, weil es keine gemischten Klassen gab. „Bin ich dann die einzige, die keine Mädchenkleider tragen darf?“, fragte ich mich besorgt. Ich war erleichtert, als ich erfuhr, dass alle das Gleiche zu tragen hatten.
Mit sechs Jahren mussten wir mit einem schwarzen Umhang sowohl unser Haar als auch unsere Brüste, die noch gar nicht gewachsen waren, bedecken. Bald merkten wir, dass zwischen unserem Hidschab und der Behandlung der Lehrer:innen und Schulleiter:innen ein direkter Zusammenhang bestand! Egal wie perfekt unsere Leistung war, wir wurden nach unserem Hidschab beurteilt. Ich lernte schnell, ihn perfekt zu tragen und wollte ihre Anerkennung so sehr, dass ich schließlich sogar einen Tschador trug, den schwarzen Ganzkörperschleier. Dafür bekam ich in der dritten Klasse das beste Hidschab-Zeugnis – ja, Sie haben richtig gelesen – das gibt es wirklich.
Hidschab bezieht sich im Islam im weiteren Sinn nicht nur aufs Kopftuch, sondern insgesamt auf einen bescheidenen, züchtigen Kleidungsstil einer Frau. Meine Familie war stolz.
Es gab in der Schule auch Auszeichnungen, wenn man zeigte, dass man sich mit dem Propheten und den Imamen auskannte. Ich war verrückt nach diesen Auszeichnungen.
Im Alter von zehn Jahren kannte ich jede Geschichte über den Propheten.
Aber je mehr ich las, desto mehr Widersprüche fand ich. Warum sollten sich Menschen in Steine verwandeln, weil sie homosexuell sind? Warum sollte ich in die Hölle kommen, wenn ich einen Buben berührte? Sie waren früher doch meine besten Freunde. Meine Onkel tranken Wein. Ich liebte sie, sie waren gute Menschen, warum sollte ihnen etwas Schlimmes zustoßen, wie es in den Geschichten geschrieben stand?
Zu viele offene Fragen. Wenn ich im Detail erzählen wollte, wie ich meinen Lebens-, Denk- und Kleidungsstil geändert habe, müsste ich ein ganzes Buch schreiben!
Kurz gesagt, ich habe mir erlaubt, zu zweifeln. Das Gleiche tun heute viele Iraner:innen.
Wir fragen uns: Wie kann eine Regierung so sehr von unserem Hidschab besessen sein, während die Menschen nicht wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen? Warum sollte die weibliche Hälfte der Bevölkerung weniger Rechte haben als die männliche? Das alles kann nur möglich sein, weil wir unserer Regierung egal sind, weil unsere Körper nur Projektionsflächen ihrer Macht und unsere Leben nur dann wertvoll sind, solange sie dieser Macht dienen. Sobald wir uns auflehnen, müssen wir – ihr zufolge – eliminiert werden.
Fundament der Revolte. Es gab immer wieder Menschen im Iran, die dieses Regime kritisierten, und jedes Mal haben die Behörden sie zum Schweigen gebracht. In den ersten zehn Jahren nach der Revolution 1979 ließ das Regime Tausende von Menschen in aller Stille hinrichten. Dann kam das Internet und die Familien der Mittelschicht hatten Geld, um die Welt zu bereisen. Sie begannen, sich mit Menschen in anderen Ländern zu vergleichen. Die Kultur und der Lebensstil begannen sich zu ändern. Bewusstsein ist das Fundament dieser Revolte.
Es war in den 1990er Jahren, als die Regierung diese Veränderungen nicht mehr tolerieren konnte und eine Sittenpolizei gründete. Die Antwort auf die Frage, wie man mit der neuen Generation umgehen sollte, war Unterdrückung. Aufgrund falscher Entscheidungen, die das Regime traf, ging es auch mit der Wirtschaft bergab.
Ich habe Ökonomie und Finanzen studiert und kann Ihnen versichern, dass die US-Sanktionen nicht der Hauptgrund dafür waren, wie oft behauptet wird.
2019 brachen gegen die Misswirtschaft heftige Proteste aus, die Regierung antwortete mit brutaler Gewalt. 1.500 Menschen wurden damals laut der Nachrichtenagentur Reuters getötet. Ich nenne Zahlen, aber es waren Menschen aus Fleisch und Blut. Lehrende, Angestellte, Studierende, Arbeiter:innen, Ärzt:innen – unbewaffnete Menschen, die ein langes Leben hätten haben können, von anderen geliebt, sie hätten ein Ehemann oder eine Mutter werden können.
Stimme der Vielen. Jetzt ist alles durch die Covid-19-Pandemie noch schlimmer geworden. Die Diktatur hat uns arm gemacht, um uns besser kontrollieren zu können, aber sie hat nicht daran gedacht, dass arme Menschen nichts zu verlieren haben. Der größte Druck wurde auf die Mittelschicht ausgeübt, weil sie die Trägerin der Demokratie ist.
Aber dieses Kalkül geht nicht auf: Jetzt stehen wir hier, kurz vor einer neuen Revolution. Jeder und jede ist an diesem Aufstand beteiligt, und ich hoffe, dass wir durch weitere Streiks und Proteste eine Veränderung erreichen können. Wenn jemand getötet wird, wissen wir, dass wir die nächsten sein könnten, aber wir haben keine Angst mehr.
Ich weiß nicht, ob ich zu dem Zeitpunkt, an dem Sie dies lesen, in Sicherheit sein werde. Mit diesem Brief will ich für einen Moment die Stimme der vielen Menschen sein, die genauso gut Ihr Freund, Ihre Freundin, ja Sie selbst sein könnten, wenn Sie im Iran geboren wären.
Nasrin Azimi
Der Name der Autorin wurde zu ihrem Schutz von der Redaktion geändert.
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